„Erinnerst du dich noch an sie?“ Leise erklingt deine Stimme, zaghaft, unsicher. Lange hast du mit dir gerungen diese Frage zu stellen. Dein Bruder ist nicht rührseelig. Manchmal glaubst du, seine Herz ist so hart wie stein. Er ist nicht wie du – so herzlich, so aufgeschlossen, so voller Neugierde und voller Gedanken. So voller Lust auf die Welt und so voller Lebensfreude. Meistens, ja meistens bist du derjenige, der voll guter Laune strahlt, der die Welt entdecken will. Nur in Momenten wie diesen, wenn die Erinnerung an deine Mutter dich packt, festhält und nicht mehr loslassen möchte, sind alle guten Gedanken verschwunden. Du erinnerst dich noch sehr genau an sie. Wie sie sich angefühlt hat, ihr warmes Fell. Nicht überall war es so weich gewesen wie dein eigenes beige-braunes Gewand oder das eher gräuliche, helle deines Bruders Avis. Und doch hatte es für Geborgenheit gesorgt. Jetzt sorgte nur noch das Rudel für euch beide. Denn Arkanis war fort und niemand wusste, ob sie noch am Leben war. Nicht einmal Rúna, die du so bewunderst und der du gerne nacheifern würdest. Eine Heilerin – was für eine wundervolle Gabe. Es hat dich schwer beeindruckt, wie sie die verletzten Wölfe geheilt hat, wie sie die Kräuter unterschied, wie sie ihr Wissen nutzte, während alle anderen nur auf den Lauf der Zeit und das Schicksal hätten warten müssen. Du willst nicht mehr auf das Schicksal warten müssen, ihm nicht ausgeliefert sein. Es hat dir bereits deine Mutter genommen, noch einmal, willst du das nicht geschehen lassen. Noch immer hat Avis nicht geantwortet, stumm blickt dein Bruder geradeaus. Du musterst ihn. In jeder Sekunde, die vergeht, wird dir klarer bewusst, wie unterschiedlich ihr seid. Du zurückhaltend und freundlich, er vorlaut und oft schlecht gelaunt. Wer euch nicht kennt, würde wohl kaum vermuten, dass ihr blutsverwandt seid. Aber das seid ihr. Auch wenn die anderen aus der Gemeinschaft wundervoll sind. Tryss und Deka, so neugierig und gut gelaunt, immer bereit alle offenen Fragen zu beanworten. Tamias so stark, Alvarez so überlebt, selbst Skadi, die eigentlich wenig für euch Welpen übrig hat. Nur Avis gehört noch zu deiner Familie. „Vielleicht finden wir sie irgendwann.“ gibst du schüchtern zu überlegen, wohlwissend, dass dein Bruder kein Träumer ist und du einen Blick ernten wirst, der sich irgendwo zwischen Mitleid und Ärgernis bewegt. Es ist dir egal. Denn Familien müssen zusammen halten. Und dein Bruder ist alles, was dir von dieser Familie geblieben ist.